Schauspiel
Heinrich von Kleist
Entstanden vor über 200 Jahren, bleibt Kleists Komödie zeitlos aktuell. Ulrike Arnold bringt sie im Großen Haus mit ungewöhnlichen inszenatorischen Mitteln auf die Bühne.
In Huisum ist Gerichtstag. Dorfrichter Adam allerdings ist schwer lädiert. Er sei, sagt er, früh aus dem Bett aufstehend »über sich selbst gestolpert«. Auch die Amtsperücke fehlt. Zum Überarbeiten weggegeben, an der Kerze entflammt – oder hat nicht nachts die Katze drin gejungt? Steckt in Adams Bericht vom – eher nächtlichen, denn frühmorgendlichen – Sturz als einem »Adamsfall« zumindest ein Gran Wahrheit, wird gleichzeitig das Netz von Lügen, die der Richter präsentiert, um seinen Zustand zu erklären, immer wirrer.
Der Prozess aber will geführt sein. Zumal ein überraschend zur Inspektion gekommener Gerichtsrat ihm beizusitzen wünscht. Zur Verhandlung kommt so der Fall eines Kruges: Bei einem nächtlichen Übergriff in der Kammer der jungen Eve ging er in Stücke. Mit ihm zerstört ist auch der Glaube an Eves Unschuld. Mutter Marthe bezichtigt deren Verlobten beider Vergehen. Der leugnet, spricht von einem unerkannt geflohenen Dritten. Und Eve schweigt.
Kleists Komödie von 1808 ist nach der missglückten Weimarer Uraufführung jahrhundertelang in unterschiedlichen Stilen und mit wechselnden Perspektiven auf die Figuren immer wieder gespielt worden. Der verhandelte Sachverhalt bleibt aktuell: Die frühe #metoo-Geschichte erzählt von Machtmissbrauch und struktureller Gewalt. Just der Mann, dem die Wahrung der Gesetze obliegt – erdacht, um Missbrauch zu verhindern – versucht hier mit allen Mitteln, seine Position zu sichern und unterhöhlt dabei nicht nur den Rechtsstaat. Denn wo Recht und Unrecht ineinander stürzen, verschwimmen die Begriffe. Ist Worten nicht zu trauen, wird auch die Wahrheit löchrig. Bei Kleist ist sie immer ein fragiles Konstrukt. So schnell zerscherbt wie Marthes Krug.
Ulrike Arnold, in Braunschweig bekannt durch ihren »Woyzeck« in der Fassung von Tom Waits, arbeitet erstmals mit dem Künstler Samuel Weikopf zusammen. In seinen live entstehenden und ins Bühnenbild projizierten Zeichnungen spiegelt sich die in Kleists Sprache angelegte Mehrdeutigkeit. Des Richters »alternative Fakten« werden darin ebenso plastisch wie kritisch konterkariert.
Aufführungsdauer: ca. 2 h, keine Pause
Zur Inszenierung »Der zerbrochne Krug« liegen weitere Hinweise (Content Notes) vor. Diese können bei Bedarf im Bereich Barrierefreiheit: Sensorische Reize und Content Notes abgerufen werden.
»Robert Prinzler gibt Kleists sündigen Richter am Staatstheater Braunschweig als jungen, ziemlich prolligen Plebejer mit kahlem Kopf, rülpsend und unbekümmert nackt im Arme-Sünder-Hemd. (…) (Er) spielt das mit herrlicher Feistigkeit, gibt sich quasi als Mann aus dem Volke, der mit den seinen schon umzugehen weiß, der mit Einschüchterung und Lockung sein System verfestigt und sich sogar an den zur Visitation angereisten Gerichtsrat Walter rankumpelt, als wär’ er seinesgleichen. Ein gelungen anderes, zeitgemäßes Rollenporträt.«